Wilfried Engemann (Hrsg.)

DIE PRAKTISCHE THEOLOGIE OTTO HAENDLERS

SPURENSICHERUNG EINES EPOCHENWECHSELS

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Cover: Zacharias Bähring, Leipzig

Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-374-04783-3

www.eva-leipzig.de

VORWORT

Otto Haendlers Denken hat seit Beginn der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts einen wachsenden Einfluss auf die Diskurse der Praktischen Theologie gewonnen, der bis in diese Tage nachwirkt. Insbesondere seine Weichenstellungen auf dem Gebiet der Predigtlehre und der Seelsorge hatten erhebliche Weiterungen und Vertiefungen der bis dahin geläufigen Argumentationsmuster dieser Disziplinen zur Folge. Sie gehören heute zum Standardrepertoire praktisch-theologischer Arbeit, ohne dass die entsprechenden Impulse und Anstöße Haendlers, was ihre Urheberschaft angeht, in allen Fällen offensichtlich wären.

Angeregt durch die laufenden Arbeiten an der Edition von Otto Haendlers Schriften und Vorträgen zur Praktischen Theologie (OHPTh)1 fanden zwei Symposien2 statt, die einerseits dem Spätwerk Haendlers, dem Grundriss der Praktischen Theologie (1957), andererseits seinem homiletischen Schrifttum gewidmet waren, insbesondere seiner Homiletik (»Die Predigt«, 1941) und der bis dahin unveröffentlichten Habilitationsschrift (»Die Idee der Kirche in der Predigt«, 1930). Die Vorträge und Workshops gingen nicht nur der Rekonstruktion des praktisch-theologischen Diskurses von 1930 bis zur Gegenwart sowie der Rezeption der Schriften Otto Haendlers in der Fachliteratur nach, sondern mündeten auch in die Frage, worin der Ertrag seiner Einsichten, Prinzipien und Methoden für die Fragestellungen von Theologie und Kirche heute liegen könnte. Bei ganz bestimmten, für die Entwicklung der Praktischen Theologie zentralen Themen wurde deutlich, wie weit Haendler seiner Zeit voraus war: Mit der von ihm vorgenommenen Einbettung dieses Fachs in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, mit der Profilierung der Anthropologie zu einer Grundlagenwissenschaft von Liturgik, Homiletik und Seelsorge, mit der Wiedergewinnung des Personen- bzw. Subjektbegriffs als theologische Kategorie und nicht zuletzt mit seiner Suche nach einem am Menschsein des Menschen anschließenden Glaubensverständnis ist Otto Haendler ein wichtiger Impulsgeber für entsprechende Herausforderungen bis in die Gegenwart hinein.

Die Anordnung der Beiträge dieses Bandes widerspiegelt nicht den chronologischen Ablauf der Symposien. Das Buch erschließt den Diskurs der beiden Tagungen, indem es von allgemeinen Themen zu spezielleren führt: Teil I (S. 9–52) gilt den biographischen Orten und wissenschaftlichen Kontexten Otto Haendlers und nimmt seine Praktische Theologie als ganze in den Blick. Teil II (S. 53–140) ist den homiletischen Akzentuierungen Haendlers gewidmet. Hier wird ein Bogen vom ersten homiletischen Text Haendlers, seiner Habilitationsschrift, bis hin zu seinem Standardwerk »Die Predigt« geschlagen. In Teil III (S. 141–162) wird anhand einer bislang unveröffentlichten Predigt ein Workshop dokumentiert. Eine Predigt von Jürgen Ziemer – gehalten in der Kirche, in der Haendler von 1934–1949, parallel zu seinen akademischen Verpflichtungen an der Universität Greifswald, als Pfarrer tätig war – sowie ein Nachwort runden diesen Teil des Buches ab.

Als die Beiträge dieses Buches entstanden, lagen die in Anmerkung 1 genannten Bände der Edition von »Otto Haendler: Schriften und Vorträgen zur Praktischen Theologie« noch nicht vor. Allerdings standen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einzelne unveröffentlichte Texte Haendlers, wie zum Beispiel dessen Habilitationsschrift, bereits zur Verfügung. Um einer einheitlichen Zitierweise willen wurden die Seitenangaben aller Fußnoten, soweit sie sich auf die neu oder erstmals edierten Texte Haendlers beziehen, für das vorliegende Buch an die Seitenzählung in OHPTh 1 und 2 angepasst. Möge diese Erleichterung des Zugangs zu den nun in neuer Gestalt und mit zusätzlichen Kommentaren versehenen Texten Haendlers das Ihre dazu beitragen, sich mit den wegweisenden Impulsen dieses Praktischen Theologen auseinanderzusetzen und sich von seinem leidenschaftlichen Ringen um eine zeitgenössische Theologie und eine Kirche für Menschen anregen zu lassen.

Birte Bernhardt und Jeanine Lefèvre haben mich bei der Vereinheitlichung der Manuskripte sowie bei der Korrekturlektüre der Texte zuverlässig unterstützt, wofür ich ihnen auch an dieser Stelle herzlich danke.

Wilfried Engemann
Wien, im Mai 2017


1 Zwei Bände liegen nunmehr vor. Bd. 1: Otto Haendler: Praktische Theologie. Grundriss. Aufsätze und Vorträge (= OHPTh 1), herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Wilfried Engemann, Leipzig 2015; Bd. 2: Otto Haendler: Homiletik. Monographien, Aufsätze und Vorträge (= OHPTh 2), herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Wilfried Engemann, Leipzig 2017. Folgende weitere Bände sind geplant: Seelsorge (= OHPTh 3, 2018), Glaube und Lebenswelt (= OHPTh 4, 2019), Praxis des Christentums (= OHPTh 5, 2019).

2 Das erste Symposion fand vom 24.–26. Mai 2013 an der ehemaligen Wirkungsstätte Otto Haendlers in Neuenkirchen bei Greifswald statt (zur Biographie Haendlers vgl. OHPTh 1, a.a.O., 603–606), das zweite in Ludorf a. d. Müritz (22.–24. Oktober 2015).

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Volker Gummelt

Neuenkirchen und Greifswald

Lebens- und Arbeitsorte des Pfarrers und Professors Otto Haendler

Michael Meyer-Blanck

Geburt der Pastoralpsychologie zur Unzeit

Otto Haendlers Stellung in der Entwicklung der Praktischen Theologie des 20. und 21. Jahrhunderts

Wilfried Engemann

Otto Haendlers Praktische Theologie

Spurensicherung eines Epochenwechsels

Wilfried Engemann

Auf der Suche nach einer Kirche für Menschen

Kontext, Inhalt und Argumentationslinien der Habilitationsschrift Otto Haendlers (1930)

Christian Plate

Wechselwirkungen zwischen Kanzel und Katheder

Otto Haendlers Predigten im Lichte seines homiletischen Denkens

Jürgen Ziemer

Seelsorglich predigen

Otto Haendlers Predigtlehre – pastoralpsychologisch gelesen

Isolde Meinhard

Das Selbst des Predigers gestalten

Predigtarbeit auf Basis des Personen-Prinzips

Christian Plate

Die Frage nach dem Subjekt des Predigers im Spannungsverhältnis von Selbstwerdung und Individualisierung

Wilfried Engemann

»Dass wir des Lebens Herr werden«

Ergebnisse eines Workshops zu einer Predigt von Otto Haendler

Otto Haendler: Jakobs Kampf

Predigt mit 1. Mose 32,23–33

Jürgen Ziemer

Solange Gott segnet

Predigt in Neuenkirchen zum Trinitatisfest (26. Mai 2013) mit Bezug auf 4. Mose 6,22–27

Jürgen Ziemer

Predigen im Wirkungsfeld Otto Haendlers

Ein Nachwort

Autorenverzeichnis

NEUENKIRCHEN UND GREIFSWALD

Lebens- und Arbeitsorte des Pfarrers und Professors Otto Haendler

von Volker Gummelt

Wenn der heutige Besucher an das Grab von Erika und Otto Haendler auf dem Kirchfriedhof von Neuenkirchen bei Greifswald tritt, kann er auf deren Gedenkstein neben den Namen und den Lebensdaten der beiden Verstorbenen lesen, dass Otto Haendler in den Jahren von 1935 bis 1949 als Pfarrer dieses Ortes wirkte. Wer war jener Otto Haendler, der am 18. Dezember 1934 aufgrund des der Greifswalder Universität zustehenden Patronatsrechts vom Rektor Wilhelm Meisner (1881–1956) zum Pastor des Kirchspiels Neuenkirchen berufen wurde?1 Warum war Haendler diesem Ort und seiner Umgebung so verbunden, dass er und seine Frau hier im Jahre 1981 ihre letzte Ruhestätte fanden?

1. DER WERDEGANG OTTO HAENDLERS BIS ZU SEINEM EINSTIEG IN DIE AKADEMISCHE LEHRTÄTIGKEIT IN GREIFSWALD

Geboren wurde Otto Haendler am 18. April 1890 in Löwenhagen, Kreis Königsberg, als erstes Kind des dortigen Pfarrers Wilhelm Haendler (1863–1938) und seiner Frau Elisabeth (1863–1925).2 Am 6. Mai 18903 wurde Johannes Maximilian Wilhelm Otto von seinem Vater getauft. Bereits im Jahr 1892 zog die Familie in die in der Provinz Posen gelegene Stadt Bromberg, wo Wilhelm Haendler eine der zwei Pfarrstellen übernommen hatte. Hier begann der kleine Otto seinen Schulbesuch.4 Im Jahre 1903 wechselte die Familie erneut den Wohnort, nachdem der Vater zum Superintendenten von Potsdam und zum Ober-Pfarrer an der dortigen Nikolaikirche berufen worden war.5 In dieser Kirche wurde Otto Haendler am 26. März 1905 von Wilhelm Haendler eingesegnet.6 Am Viktoria-Gymnasium zu Potsdam legte Otto Haendler im März 1908 seine Reifeprüfung ab, die ihn gemäß des ausgestellten Zeugnisses zum Theologiestudium befähigte.7

Im Mai 1908 wurde Haendler an der Berliner Universität im Fach Theologie immatrikuliert, wo er sich sogleich zur Ableistung eines einjährigen Wehrdienstes beurlauben ließ.8 Zum Sommersemester 1909 wechselte Haendler dann an die Universität Tübingen.9 In den drei Semestern, die er dort studierte, besuchte er Lehrveranstaltungen sowohl im Neuen Testament als auch in Dogmatik vor allem bei Adolf Schlatter (1852–1932). Zum Wintersemester 1910/11 ging Haendler wieder zur Berliner Universität zurück.10 Prägende Lehrer für ihn während seiner Studien bis einschließlich dem Wintersemester 1912/13 waren in der Kirchengeschichte Adolf von Harnack (1851–1930) und Karl Holl (1866–1929) sowie in der Praktischen Theologie Friedrich Mahling (1865–1933). Da der Vater Wilhelm im Jahre 1911 zum Generalsuperintendenten von Berlin-Land berufen worden war, lebte seit dieser Zeit die elterliche Familie ebenfalls in Berlin.11 Vom 20. bis 23. September 1913 legte Otto Haendler im Konsistorium zu Berlin seine Erste Theologische Prüfung mit dem Prädikat »recht gut« ab.12

Sein Antrag auf Aufnahme in das Königliche Domkandidatenstift zu Berlin wurde am 14. März 1914 genehmigt.13 Im April/Mai darauf begann er dort seine pastorale Ausbildung.14 Freilich musste Haendler diese durch den Beginn des Ersten Weltkriegesalsbald abbrechen,15 denn bereits am 2. August 1914 wurde er als Leutnant der Reserve in den Kriegsdienst eingezogen.16 Während eines Genesungsaufenthaltes legte Haendler am 4. März 1915 im Berliner Konsistorium seine Zweite Theologische Prüfung mit der Note »gut« ab. Da diese Prüfung als »Notprüfung« verstanden wurde, war ihm die sonst geforderte wissenschaftliche Prüfungsarbeit erlassen worden.17

Nach einer weiteren schweren Verletzung im August 1915 schied Haendler aus dem aktiven Kriegsdienst aus und war ab April 1916 als Garnison-Hilfsprediger in Berlin tätig.18 Am 3. Juli 1916 wurde er von seinem Vater in der Berliner Nikolaikirche ordiniert.19 Seit dem 15. März 1917 war Otto Haendler zudem die Stelle des ersten Adjunkten am Domkandidatenstift und damit verbunden eines Domhilfspredigers übertragen worden.20

Zu Ende des Jahres 1918 bat der »Garnisons-Pfarrer und Domhilfsprediger« Haendler beim Ephorus des Stifts, dem Oberhofprediger Ernst von Dryander (1843–1922), um ein Zeugnis für eine Bewerbung auf eine Pfarrstelle in der Provinz Brandenburg.21 Nachdem Haendler am 19. Mai 1919 die Krankenschwester Erika Badstübner (1897–1981) geheiratet hatte, übernahm er zum 1. August des Jahres das Pfarramt in der Gemeinde Gumtow im Landkreis Prignitz.22 In dieser Zeit wurde der erste Sohn Gert am 17. August 1924 geboren.23 Neben der pfarramtlichen Tätigkeit hat Haendler sich mit seiner Promotionsschrift beschäftigt. Betreut von seinem einstigen Berliner Lehrer für Systematische Theologie Reinhold Seeberg (1859–1935), verfasste er eine Abhandlung zur Christologie des Erlanger Systematikers Franz Hermann Reinhold Frank (1827–1894). Noch vor Abschluss des Promotionsverfahrens zum »Lic. theol.« am 6. November 1925 in Berlin24 wurde Haendler am 16. Januar 1925 durch den Bürgermeister Carl Heydemann (1878–1939) und den Rat der Stadt Stralsund zum »zweiten Geistlichen an der St. Nicolai-Kirche hierselbst« berufen.25 Daraufhin verließ die Familie ihren bisherigen Berlin-Brandenburgischen Lebensraum und zog nach Pommern, wo die Tochter Ethelinde am 26. Oktober 1926 geboren wurde.26 Im gleichen Jahr legte Haendler in einem ausführlichen Aufsatz »Zur Christologie Franks« in der Zeitschrift für Systematische Theologie die Ergebnisse seiner Dissertation und damit auch zugleich eine erste wissenschaftliche Publikation vor.27

2. ERSTE AKADEMISCHE LEHRJAHRE IN GREIFSWALD

Gemäß einer kurzen Angabe im Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Wintersemester 1927/28 war Pfarrer Lic. theol. Haendler von der dortigen Theologischen Fakultät mit der Abhaltung von homiletischen und katechetischen Kursen beauftragt worden.28 Dieser Eintrag findet sich gleichlautend in den Vorlesungsverzeichnissen der folgenden Semester bis einschließlich dem für das Wintersemester 1930/31.29 Später gab Otto Haendler an, dass er neben seinem Stralsunder Pfarramt im Jahre 1927 Assistent an der Greifswalder Universität geworden sei.30 Da Haendlers Kurse nicht in der Lehrübersicht der Fakultät aufgeführt wurden, ist der Umfang dieser nebenamtlichen Lehrtätigkeit schwer einzuschätzen. Seit dieser Zeit arbeitete Haendler auch an seiner Habilitationsschrift mit dem Titel »Die Idee der Kirche in der Predigt«. Am 2. August 1930 konnte er diese vor der Theologischen Fakultät Greifswald verteidigen.31 Für den 8. November des gleichen Jahres lud der Dekan Friedrich Baumgärtel (1888–1981) zu einer öffentlichen Vorlesung Haendlers zur Erlangung der Lehrerlaubnis für Praktische Theologie ein.32 Das gewählte Thema lautete: »Die Berneuchener Bewegung in ihrer kirchlichen Bedeutung für die Gegenwart«. Damit war Haendler in den Status eines Privatdozenten gelangt und konnte nunmehr eigenständige Lehrveranstaltungen abhalten. Wie dem Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Sommersemester 1931 zu entnehmen ist, kündigte er neben einem homiletischen Proseminar eine erste Vorlesung mit dem Titel »Psychotherapie und Seelsorge« an.33 Doch ist es sehr unwahrscheinlich, dass diese Lehrveranstaltungen in Greifswald gehalten wurden,34 denn im März 1931 erhielt Haendler durch den Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin die Ernennung zum Studiendirektor des Evangelischen Predigerseminars in Stettin zum 1. April des gleichen Jahres.35 Wie dem Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1931/32 zu entnehmen ist, war Haendler zu dieser Zeit von seiner Lehrverpflichtung als Privatdozent beurlaubt worden. Diese Beurlaubung wurde bis zum Sommersemester 1934 immer wieder erneuert.36

3. DIE TÄTIGKEIT ALS DOZENT IN GREIFSWALD UND PFARRER IN NEUENKIRCHEN

Erst für das Wintersemester 1934/35 kündigte der Stettiner Studiendirektor Haendler dann erneut eine Vorlesung an der Greifswalder Fakultät an.37 Die Absicht, in die universitäre Lehrtätigkeit einzusteigen, zeigt Haendlers Bemühen in der zweiten Hälfte des Jahres 1934, sich beruflich neu zu orientieren. Zu dieser Zeit wurde er nämlich von der von den »Deutschen Christen« gestellten Kirchenleitung der pommerschen Provinz, die einen ihrer Anhänger zum Studiendirektor einsetzen wollte, aus dem Stettiner Amt gedrängt. So dürfte Haendler die Berufung in das Pfarramt des in der unmittelbaren Nähe zur Universitätsstadt Greifswald gelegenen Kirchspiels Neuenkirchen zu Anfang des Jahres 1935 gern angenommen haben.38 Am 20. Februar des Jahres zog die Familie in das alte, geräumige Pfarrhaus aus dem 18./19. Jahrhundert. Am 10. März fand die Einführung in der mittelalterlichen Pfarrkirche statt, bei der neben dem seit 1933 im Ruhestand lebenden Vater Wilhelm der Nachbarpfarrer Johannes Gudopp (1873–1945) aus Wieck bei Greifswald sowie als Vertreter des Patronats der Greifswalder Professor für Systematische Theologie Rudolf Hermann (1887–1962) anwesend waren.39

Im folgenden Sommersemester 1935 hielt Haendler eine Vorlesung zum Thema »Seelsorge als Grundanliegen der Kirche«.40 Diese Lehrveranstaltung dürfte Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) und die ihn begleitenden Kandidaten aus dem Predigerseminar Stettin-Finkenwalde bei ihrem Aufenthalt in Greifswald im Juni 1935 besucht haben. Danach schloss sich ein Gespräch im Neuenkirchener Pfarrhaus an.41 Jenes Haus wurde gern von Studenten und Mitgliedern der Greifswalder Theologischen Fakultät aufgesucht, aber auch Freunde aus der Jugend- und der Berliner Zeit wie etwa der Pianist Wilhelm Kempff (1895–1991) waren oftmals zu Gast bei Haendlers in Neuenkirchen.42

Neben seiner pfarramtlichen und universitären Tätigkeit absolvierte Otto Haendler von 1935 bis 1937 eine psychotherapeutische Ausbildung am »Berliner psychologischen Institut«. Nach deren Abschluss im November 1937 wurde er zum Mitglied des »Deutschen Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie« sowie der »Deutschen allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie« ernannt.43

Hatte Haendler im Wintersemester 1934/35 und im Sommersemester 1935, im ersten Jahr seines Wiedereinstiegs in den Lehrbetrieb in Greifswald, zunächst lediglich je Semester eine zweistündige Vorlesung angeboten, so erweiterte er im Laufe der Zeit stetig den Umfang seiner Lehrveranstaltungen. In den Jahren 1935 und 1936 wurden von ihm je vier Lehrstunden, verteilt an drei Tagen der Woche, abgehalten.44 Im Wintersemester 1936/37 bot Haendler eine vierstündige Hauptvorlesung und außerdem ein zweistündiges homiletisches Proseminar an.45 In den folgenden Jahren waren es zumeist auch zwei bis drei Vorlesungen bzw. Seminare, die von ihm an drei verschiedenen Tagen abgehalten wurden.46 Zumeist vier Lehrveranstaltungen je Semester hielt Haendler dann zu Anfang der vierziger Jahre.47 Im Sommersemester 1941 waren es sogar vier Vorlesungen und ein Seminar, in einem Umfang von sieben Wochenstunden, die der Dozent Haendler anbot.48 Dabei ist zu beachten, dass er gleichzeitig seine erste umfangreiche Monographie »Die Predigt. Tiefenpsychologische Grundlagen und Grundfragen« für den Druck vorbereitete. Das Vorwort dieses Buches, das eines seiner Hauptwerke werden sollte, ist auf den August 1941 datiert.49

Die Folgen des Krieges erreichten in dieser Zeit auch unmittelbar die Familie Haendler. Im Jahre 1942 wurde der Sohn Gert Soldat. Im Jahr darauf bekamen erste Flüchtlinge Unterkunft im Pfarrhaus, auch Verwandte seiner Frau Erika aus Berlin zogen in das Neuenkirchener Pfarrhaus. Zudem war Haendler in jenen Jahren als Lazarettseelsorger in den Greifswalder Kliniken tätig. Im Winter 1944/ 1945 fanden bis zu 40 Flüchtlinge Zuflucht im Pfarrhaus zu Neuenkirchen.50

4. DIE NACHKRIEGSJAHRE ALS PROFESSOR IN GREIFSWALD UND PFARRER VON NEUENKIRCHEN

Auch für Otto Haendler und seine Familie war das Kriegsende ein tiefer Lebenseinschnitt. Unmittelbar nach der kampflosen Übergabe der Stadt Greifswald an die Rote Armee Ende April 1945 wurde auch das Dorf Neuenkirchen von dieser besetzt. Das Pfarrhaus diente als Kommandantur, sodass Haendlers zeitweise bei einer befreundeten Familie in Greifswald wohnen mussten. Trotzdem versuchte Otto Haendler seine pfarramtliche Tätigkeit in Neuenkirchen aufrechtzuerhalten.51

Von Seiten der Universität beabsichtigte man, alsbald wieder den Lehrbetrieb aufzubauen. Am 20. Juni 1945 wurde Haendler vom amtierenden Rektor Ernst Lohmeyer (1890–1946) für den aus Greifswald geflohenen Ordinarius für Praktische Theologie Walter Bülck (1891–1952) zum Universitätsprediger berufen.52 Nur wenige Wochen später, am 3. August 1945, erfolgte in Anerkennung seiner langjährigen Dozententätigkeit ebenfalls von Lohmeyer die Ernennung zum außerplanmäßigen Professor.53 Im beginnenden Lehrbetrieb ab Sommersemester 1946 übernahm Haendler nun jedes Semester eine Lehrverpflichtung von acht Semesterwochenstunden.54 Am 14. November 1946 wurde er dann vom Rektor der Universität Rudolf Seelinger (1886–1965) auf den ordentlichen Lehrstuhl der Praktischen Theologie berufen und zum beamteten außerordentlichen Professor ernannt.55 Schließlich erfolgte zum 1. März 1947 die Ernennung durch den Schweriner Kultusminister Gottfried Grünberg (1899–1985) zum Ordinarius für Praktische Theologie an der Greifswalder Universität.56

Wie ein Schriftverkehr Haendlers mit dem Dekan der Theologischen Fakultät aus dieser Zeit belegt, war Haendler die Annahme dieser Professur nicht leicht gefallen, fühlte er sich vor allem durch die gemeinsam durchlebte Kriegszeit mit seiner Neuenkirchener Kirchengemeinde sehr verbunden. So einigte man sich darauf, dass Haendler für eine Übergangszeit weiterhin Pfarrer in Neuenkirchen bleiben könne.57 Schließlich übergab er zum 1. Februar 1949 das Pfarramt Neuenkirchen an Pastor Kurt Born (1879–1952). Dieser, ein emeritierter Pfarrer, hatte nach der Flucht aus Hinterpommern im Neuenkirchener Pfarrhaus Unterkunft gefunden und Haendler seitdem bei dessen pfarramtlichen Aufgaben unterstützt.58

Die Familie Haendler zog im Sommer1949 aus dem liebgewordenen Pfarrhaus Neuenkirchen in die Stadt Greifswald, doch blieb die besondere Verbundenheit mit dem Ort weiterhin bestehen.59

5. DIE JAHRE IN BERLIN (1951–1981)

Bereits am 1. April 1951 nahm Otto Haendler den Ruf auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie seiner Berliner Alma Mater an.60 Zu Anfang des Jahres 1952 zogen Haendlers dann nach Berlin. Erst im Jahre 1959 und damit im Alter von 69 Jahren erfolgte die Emeritierung.61 Bis einschließlich Herbstsemester 1966/67 hielt Haendler jedoch noch weiterhin Lehrveranstaltungen ab.62

Auch in dieser Berliner Zeit blieb die Verbundenheit mit Greifswald/Neuenkirchen bestehen. Zumeist zur Greifswalder Bachwoche im Juni eines jeden Jahres weilte man an der einstigen Lebens- und Wirkungsstätte, pflegte Freundschaften etwa mit dem Greifswalder Kirchenmusikdirektor Hans Pflugbeil (1909–1974) oder mit dem Nachfolger im Neuenkirchener Pfarramt Gerhard Masphul (1909–1975). So konnte Haendler am Ende seiner im November 1974 geschriebenen Erinnerungen im Memorabilienbuch der Kirchengemeinde Neuenkirchen formulieren: »Die fünfzehn Jahre Neuenkirchen haben uns mit ihrem Licht und ihrem Ernst durch die weiteren Perioden unseres Lebensweges begleitet – und wecken immer wieder tiefen Dank.«

Am 12. Januar 1981 verstarb Otto Haendler im 91. Lebensjahr in Berlin. Fünf Tage später, am 17. Januar fand seine Beerdigung auf dem Kirchenfriedhof von Neuenkirchen statt – »dem Ort, der ihm während seines bewegten Lebens zur eigentlichen Heimat geworden war«63.


1 Vgl. dazu die Berufungsurkunde aus dem Nachlass Otto Haendlers. Dieser Nachlass wurde vom Sohn Gert Haendler im Jahre 2010 der Kirchengemeinde Gristow-Neuenkirchen übergeben und wird seitdem im Archiv der Kirchengemeinde Gristow-Neuenkirchen aufbewahrt. Auf dieser Berufungsurkunde findet sich der handschriftliche Vermerk Haendlers: »Die vorstehende Berufung nehm ich hiermit an. Stettin, 19. Februar 1935.« Auf der Rückseite der Urkunde steht die Bestätigung der Berufung »zum Pfarrer der Kirchengemeinde Neuenkirchen, Kreis Greifswald, lutherischen Bekenntnisses« durch das Konsistorium der Provinz Pommern in Stettin vom 28. Februar 1935.

2 Die vorliegende Studie liegt den Schwerpunkt auf Haendlers Beziehung zu Greifswald und Neuenkirchen. Ein grundlegender biographischer Entwurf zu Haendler stammt von Kerstin Voigt: Otto Haendler – Leben und Werk. Eine Untersuchung zur Struktur seines Seelsorgeverständnisses, Frankfurt a. M. u. a. 1993, 13–26. Darauf aufbauen konnte die Darstellung von Michael Meyer-Blanck: Tiefenpsychologie und Strukturtheologie: Otto Haendler (1890–1981), in: Christian Grethlein/ders. (Hg.): Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 2000, 389–432. Einen detaillierten Lebensüberblick bietet Christian Plate: Predigen in Person. Theologie und Praxis der Predigt im Gesamtwerk Otto Haendlers, Leipzig 2014, 18–70. Wilfried Engemann legt in Band 1 der »Schriften und Vorträge zur Praktischen Theologie« von Otto Haendler eine »Tabellarische Biographie zu Otto Haendler« vor: Otto Haendler: Praktische Theologie. Grundriss, Aufsätze und Vorträge (= OHPTh 1), eingel. u. hg. von Wilfried Engemann, Leipzig 2015, 603–606.

3 Vgl. den Konfirmationsschein im Nachlass Haendler (s. Anm. 1), auf dem das Taufdatum 6. Mai 1890 angegeben ist. Die Jahreszahl 1891 bei Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 20 ist somit nicht richtig.

4 Vgl. ebd.

5 Vgl. ebd.

6 Vgl. den Konfirmationsschein im Nachlass Haendler (s. Anm. 1).

7 Vgl. das Reifezeugnis vom 10. März 1908 im Nachlass Haendler (s. Anm.1).

8 Wie das am 10. April 1909 ausgestellte Abgangszeugnis der Berliner Universität aus dem Nachlass Haendler (s. Anm. 1) belegt, war Haendler im Sommersemester 1908 beurlaubt und hatte im Wintersemester 1908/09 lediglich die Vorlesung »Geschichte der protestantischen Theologie« bei Karl Holl besucht.

9 Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 23 behauptet, dass Haendler zum Wintersemester 1909/10 nach Tübingen wechselte. Jedoch belegt das Abgangszeugnis der Tübinger Universität vom 5. Oktober 1910 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1), dass Haendler von Ostern 1909 bis zum Herbst 1910 in Tübingen studierte.

10 Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 24 meint, dass Haendler erst 1911 nach Berlin zurückkehrte. Vgl. jedoch das Abgangszeugnis der Berliner Universität vom 13. März 1913 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1), wonach Haendler am 25. Oktober 1910 wieder in Berlin immatrikuliert wurde und ab dem Wintersemester 1910/11 Lehrveranstaltungen in Berlin besucht hat.

11 Vgl. Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 19, Anm. 11.

12 Vgl. entsprechendes Zeugnis vom 23. September 1913, das sich im Nachlass Haendler (s. Anm. 1) befindet.

13 Vgl. Schreiben vom 14. März 1914 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1). Die Angabe bei Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 26, nach der Haendler bereits im Jahr 1913 seine pastorale Ausbildung am Domkandidatenstift zu Berlin begonnen habe, ist somit nicht korrekt.

14 Gemäß dem Schreiben vom 14. März 1914 (s. Anm. 13) wurde die Aufnahme zum 1. Mai 1914 genehmigt. Gemäß den handschriftlichen Zeugnissen von Ernst von Dryander vom 22. Februar 1915 und vom 18. Dezember 1918, die sich ebenfalls im Nachlass Haendler (s. Anm. 1) befinden, war Haendler am 1. April 1914 Kandidat des Stifts geworden.

15 Haendler bemerkte in einem maschinenschriftlichen tabellarischen Lebenslauf, den er in der Zeit seiner Tätigkeit als Berliner Professor in den fünfziger Jahren verfasste, dazu: »Vikariat im Domkandidatenstift in Berlin, durch den Kriegsbeginn abgebrochen.« Ein Durchschlag dieses Lebenslaufes befindet sich im Nachlass Haendler (s. Anm. 1).

16 Vgl. hierzu genaue Rekonstruktion des Kriegsdienstes Haendlers bei Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 31–35.

17 Vgl. die Abschrift des Zeugnisses vom 15. Juni 1916 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1).

18 Vgl. Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 34.

19 Vgl. das sich im Nachlass Haendler (s. Anm. 1) befindliche Ordinationsattest, das am 9. Juli 1916 ausgestellt wurde.

20 So die Anstellungsbezeichnung im Schreiben des Verwaltungsrates des Domkandidatenstifts vom 19. März 1917, das sich im Nachlass Haendler (s. Anm. 1) befindet. Haendler selbst bezeichnet in seinem Lebenslauf (s. Anm. 15) diese Stelle als »Stellv(ertretender) Inspektor des Domkandidatenstifts«. Diese Bezeichnung wurde nachfolgend in der Literatur übernommen, vgl. beispielsweise Kerstin Voigt: Otto Haendler (s. Anm. 2), 16 und Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 34.

21 Vgl. handschriftliches Zeugnis, datiert auf den 18. Dezember 1918 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1).

22 Vgl. die entsprechende Berufungsurkunde des Evangelischen Konsistoriums der Mark Brandenburg vom 28. Juli 1919 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1). Handschriftlich ist darauf notiert: »Berufen zum 1.8.19.«

23 Vgl. Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 37.

24 Vgl. die Promotionsurkunde vom 6. November 1925 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1).

25 Vgl. die Vokationsurkunde vom 16. Januar 1925 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1), auf der von Haendler handschriftlich vermerkt ist: »die vorstehende Berufung nehm ich hierauf an. Gumtow. 23. Januar 1925.«

26 Vgl. Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 37.

27 Vgl. ZSTh 4, 1926, 744–776.

28 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Wintersemester 1927/28, Greifswald 1927, 16.

29 Vgl. auch die Übersicht über die Lehrtätigkeit Haendlers bei Kerstin Voigt: Otto Haendler, a.a.O. (s. Anm. 2), 316f.

30 Vgl. Angabe im maschinenschriftlicher Lebenslauf (s. Anm. 15) im Nachlass Haendlers (s. Anm. 1) sowie im Mitarbeiterverzeichnis in: RGG (3. Auflage), Bd. 6, Tübingen 1965, 82.

31 Im Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Sommersemester 1935, Greifswald 1935, 9 wird als der Tag der Ernennung zum angegebenen Dienstgrad beim Privatdozenten Haendler der 2. August 1930 genannt. Vgl. auch die Angabe in den Verzeichnissen der folgenden Semester. Haendler gab in seinem handschriftlichen Lebenslauf (s. Anm. 15) sowie im Mitarbeiterverzeichnis (RGG Bd. 6, Tübingen 31965, 82), an, dass er bereits 1928 Dozent in Greifswald geworden sei.

32 Vgl. die gedruckte Einladung vom 1. November 1930 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1).

33 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Sommersemester 1931, Greifswald 1931, 24.

34 Dies gegen die Annahme bei Kerstin Voigt: Otto Haendler, a.a.O. (s. Anm. 2), 17.

35 Vgl. die Ernennungsurkunde vom 12. März 1931 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1). In dem der Urkunde beigefügten Schreiben des Evangelischen Oberkirchenrates ist als Beginn der Tätigkeit der 21. April 1931 festgelegt.

36 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Wintersemester 1931/32, Greifswald 1931, 7 bzw. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifwald für das Sommersemester 1934, Greifswald 1934, 7.

37 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Wintersemester 1934/35, Greifswald, 1934, 40.

38 Vgl. zur Annahme der Berufung oben Anm. 1.

39 Vgl. Memorabilienbuch der Kirchengemeinde Neuenkirchen, begonnen 1822 von Johann Karl Balthasar. Das Buch befindet sich im Archiv der Kirchengemeinde Gristow-Neuenkirchen und ist nicht paginiert. Haendler hat als 17. Pfarrer nach der Reformation auf dieser Pfarrstelle seine Erinnerungen am 13. und 14. November 1974 in dieses Buch handschriftlich eingetragen.

40 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Sommersemester 1935, Greifswald 1935, 27.

41 Vgl. Memorabilienbuch (s. Anm. 39).

42 Vgl. ebd. sowie Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 20 und 50.

43 Vgl. entsprechendes Schreiben des Instituts vom 25. November 1937 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1). Die Aufnahme Haendlers in das Institut war an die ausdrückliche Bedingung geknüpft, »sich nicht als Laien-Psychotherapeut zur Ausübung einer Praxis nieder[zu]lassen, sondern Ihre Kenntnisse über seelische Vorgänge in der Ausübung Ihres Berufes [zu] verwerten.« Somit ist die Angabe bei Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 53 nicht richtig.

44 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald fürWintersemester 1935/36 und Sommersemester 1936, Greifswald 1935, 28 und 54.

45 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Wintersemester 1936/37, Greifswald 1936, 28.

46 Vgl. entsprechende Übersicht über die Lehrtätigkeit Haendlers von Kerstin Voigt: Otto Haendler, a.a.O. (s. Anm. 2), 316f.

47 Vgl. beispielsweise Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Sommersemester 1942, Greifswald 1942, 38. Die Übersicht von Kerstin Voigt: Otto Haendler, a.a.O. (s. Anm. 2), 317 bricht beim Wintersemester 1939/40 ab und setzt erst wieder zum Wintersemester 1946/47 ein. Dieses führte zur Annahme bei Michael Meyer-Blanck: Tiefenpsychologie und Strukturtheologie, a.a.O. (s. Anm. 2), 400, Haendler hätte längere Zeit seine Lehrtätigkeit ausgesetzt. Gemäß dem Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Sommersemester 1945, Greifswald 1945, 30, hatte Haendler sogar noch für dieses Semester vier Lehrveranstaltungen in einem Umfang von sieben Wochenstunden angekündigt. Freilich dürfte er diese nicht gehalten haben, denn nach der kampflosen Übergabe der Stadt Greifswald Ende April 1945 wurde die Universität zunächst geschlossen.

48 Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Sommersemester 1941, Greifswald 1941, 31.

49 Die erste Ausgabe erschien in Berlin bei Töpelmann im Jahre 1941; die 2. überarbeitete und erweiterte Auflage ebd. 1949 und die 3. Auflage ebd. 1960.

50 Vgl. Memorabilienbuch (s. Anm. 39).

51 Ebd.

52 Vgl. Schreiben vom 20. Juni 1945 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1). Bülck war neben dem Professor für Systematische Theologie Wilhelm Koepp (1885–1965) zweiter Universitätsprediger gewesen. Vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Greifswald für das Wintersemester 1936/37, Greifswald 1936, S. 9 bzw. für das Sommersemester 1945, Greifswald 1945, 11.

53 Vgl. entsprechendes Schreiben im Nachlass Haendler (s. Anm. 1). Bereits zwischen 1939 und 1942 hatte die Fakultät versucht, Haendler zum außerplanmäßigen Professor zu ernennen. Vgl. dazu Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 55 f.

54 Neben einer vierstündigen Hauptvorlesung bot Haendler zumeist eine »praktische Auslegung« einer neutestamentlichen Schrift oder eine Spezialvorlesung sowie ein Seminar an.

55 Vgl. entsprechendes Schreiben im Nachlass Haendler (s. Anm. 1). Die Angabe bei Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 59 nach der Haendler von Ernst Lohmeyer berufen sei, ist nicht korrekt. Lohmeyer starb am 19. September 1946.

56 Vgl. Schreiben vom 13. März 1947 im Nachlass Haendler (s. Anm. 1).

57 Vgl. Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 59.

58 Nachfolger im Pfarramt Haendlers wurde dann im Jahre 1950 der Pfarrer Gerhard Masphul.

59 Vgl. Memorabilienbuch (s. Anm. 39), demnach weilten die Haendlers »wenigstens zweimal je Woche zu Besuch in Neuenkirchen«.

60 Vgl. Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 61.

61 Vgl. a.a.O., 66.

62 Vgl. Kerstin Voigt: Otto Haendler, a.a.O. (s. Anm. 2), 320.

63 So Christian Plate: Predigen in Person, a.a.O. (s. Anm. 2), 69.

GEBURT DER PASTORALPSYCHOLOGIE ZUR UNZEIT

Otto Haendlers Stellung in der Entwicklung der Praktischen Theologie des 20. und 21. Jahrhunderts

von Michael Meyer-Blanck

Die Praktische Theologie ist insofern die hermeneutisch genaueste theologische Disziplin, als sie auf ihre eigenen ideologischen Fallen aufmerksam oder besser: mit ihnen unausweichlich theoretisch konfrontiert wird, wenn sie sich denn traut, genau hinzusehen. Der Zeitbezug, der Kontext, die »Zeitstelle« dieser theologischen Disziplin macht sie besonders sensibel und besonders anfällig für den Zeitgeist. Die kulturelle Enzyklopädie ist der Text der Praktischen Theologie. Darin bestehen die Schwäche und die Stärke dieser Disziplin zugleich. Die Moden, oder wissenschaftlich formuliert, die »Paradigmen«, denen die Praktische Theologie folgt, liegen deutlich zutage, weil sie mit den herrschenden kulturellen Mustern eng verbunden sind. Die Mitteilungsformen von Glauben und Religion wie »Predigt« und »Verkündigung«, »Gespräch« und »Kommunikation« oder »Lernprozess« bestimmen nicht nur die Bedingungen der Praktischen Theologie, sondern sind selbst Inhalte der praktischen Disziplin der Theologie. Die Inhalte (Freuden und Ängste, »Gaudium et Spes«, Hoffnungen, Orientierungen und kulturelle Stile dessen, was uns unbedingt angeht) einerseits und die Mitteilungsformen andererseits bilden zusammen das Formal- und das Materialprinzip, ohne dass man zwischen beiden deutlich die Grenze ziehen kann. Das Formalprinzip ist zugleich Materialprinzip und vice versa. Eigentlich gilt das für alle theologischen Fächer, weil sie ja als theologische auf die Verantwortung des Christentums und damit auf die Gegenwart ausgerichtet sind – und nicht nur religionshistorisch bzw. in einer sonstigen Weise deskriptiv auf die Vergangenheit oder auf eine Theorie von Existenz und Zusammenleben. Theologie ist als normative Theorie immer praktisch, wenn auch die historischen Fächer dieses Axiom aus arbeitsökonomischen Gründen leichter hintanstellen können.

Die Praktische Theologie hat ihre Paradigmen und Moden, die man erst aus dem historischen Abstand heraus klar erkennt. Je näher man der Gegenwart kommt, desto eher läuft man Gefahr sich zu irren. Gegenwärtig betreiben wir unsere Disziplin vor allem unter den Kategorien von Empirie, Ästhetik und Performativität. Demgegenüber lehrte Otto Haendler in einer theologischen Enzyklopädie mit den Kategorien Schriftauslegung, Verkündigung und Ekklesiologie. Sein eigenes Grundverständnis von Praktischer Theologie ist vor allem auf Subjektivität, lebensphilosophische Organologie und Meditation bezogen – und steht damit der Zeit seiner eigenen akademischen Lehre (1945–1959) ebenso fremd gegenüber wie unserer Gegenwart. Ich möchte im Folgenden zunächst einige bekannte Grundlinien des Haendlerschen Werkes im Zeithorizont nachzeichnen und danach einige Impulse für die Gegenwart benennen. Beide Abschnitte sind durch das Attribut »zur Unzeit« verbunden, weil Haendler damals ebenso deutlich außerhalb des Hauptstromes lag wie er uns heute an Orientierungen erinnern kann, die erst nach seiner eigentlichen Wirksamkeit, in den 1970er-Jahren, an Bedeutung gewannen und die heutzutage bereits wieder drohen, vergessen zu werden.

1. DIE GEBURT DER PASTORALPSYCHOLOGIE

Schon diese Überschrift klingt altertümlich lebensphilosophisch – in den 1970er Jahren hätte man sicher von der »Entdeckung« der Pastoralpsychologie gesprochen bzw. von pastoralpsychologischen Konzepten, Perspektiven oder Rekonstruktionen. Was um 1970 handlungstheoretisch ausgedrückt wurde, klang zu Haendlers Zeiten berneuchenerisch-expressiv – darum also spreche ich von der »Geburt« der Pastoralpsychologie. Haendler schreibt eben dies im August 1941, hier in Neuenkirchen bei Greifswald, im Vorwort zur ersten Auflage seines wahrscheinlich bedeutendsten Buches »Die Predigt«:

»Wer von der Theologie her kommend und in ihr verwurzelt die Psychologie nicht nur literarisch erarbeitet, sondern als Schicksal erfahren hat, ist in die Lage versetzt, beide Gebiete als Wirklichkeiten mit ihren befreienden und bedrängenden Mächten erleben zu dürfen – und zu müssen. Der Wirbel dieser beiden Ströme wird zum einheitlich tragenden Strom nur durch tiefgreifende Wandlung hindurch. […] Alles, was hier gesagt wird, ist in diesem Sinne nicht ›gedacht‹, sondern der Wirklichkeit abgesehen und abgerungen. Das Buch ist nicht aus einem Interesse, sondern aus einem Schicksal – einem mit dem Schicksal der Kirche verwobenen – geboren. Es ist geboren, nicht gedacht.«1

Im August 1941 scheint das Schicksal allerdings ganz andere Wendungen zu nehmen: Es sieht so aus, als ob der Vormarsch der Nazis nicht zu stoppen ist – deutsche Truppen schlagen die Briten in Nordafrika, marschieren von Bulgarien nach Griechenland, erobern mit Fallschirmen Kreta und stehen kurz vor Moskau.

In diesem brutalen und grenzenlos erscheinenden Sommer 1941 schließt Haendler seine Homiletik ab, in der von den subjektiven und objektiven »Mächten« beim Werden der Predigt, vom »Schicksal« des Predigers, von seiner Persönlichkeitsstruktur – und vom »Weg des Subjektes zum Evangelium und zum Text«2 die Rede ist. In grandioser Unzeitgemäßheit stellt Haendler damit die nach sieben Jahren Kirchenkampf übliche Reihenfolge um: An die Stelle des Evangeliums, das über den ausgelegten Text seinen Weg zum Hörer macht, begibt sich der Prediger zum Evangelium, zu dem, was gut ist, und erschließt sich von daher erst einmal selbst den Text, bevor er diesen homiletisch bearbeitet und anderen nahebringt. Haendlers Homiletik mutet also einen langen Umweg zu, der zum einen aufwendig zu werden verspricht und der zum anderen unter dem Vorwurf des liberalen Subjektivismus steht.

Als das Buch nach 1945 rezipiert wurde, blieb der Streit darüber nicht aus. Wie unzeitgemäß das Werk war, zeigt die von Hans-Joachim Thilo berichtete Reaktion Martin Doernes (1900–1970). Bei seiner Besprechung der ersten Auflage von Haendlers Homiletik in der Vorlesung geriet Doerne so in Zorn, dass er mitten in der Vorlesung einige Seiten seines Manuskriptes zerriss. Thilo weiter: »Als O. Haendler dies erfuhr, nahm er es lächelnd zur Kenntnis, setzte sich in den Zug und besuchte M. Doerne in seinem Haus.« Später habe dann Doerne »mit hoher Ehrfurcht«3 von den Arbeiten Haendlers gesprochen. In der dritten Auflage erwähnt Haendler kurz und sachlich die Kritik Doernes45